Screenshots von drei Social-Media-Beiträgen von Protagonistin Julia

Mit Julia durch die Schulzeit – praxisnahe Fallbeispiele für stärkere Beratungskompetenz in pädagogischen Kontexten

Im Projekt „DigiFall“ sind in den vergangenen zwei Jahren besondere Bildungsmaterialien für pädagogische und gesundheitsbezogene Studiengänge entstanden. Als Nutzerin oder Nutzer begleitet man unter anderem Julia, Jackson und Nicole und lernt dabei praxisnah, welche Rolle Kommunikation und Beratung für die Ermöglichung von Teilhabe in verschiedenen Bereichen spielt. Alle Materialien aus „DigiFall“ sowie aus vielen weiteren Projekten aus der OERContent.nrw-Förderlinie werden in Kürze auf ORCA.nrw abrufbar sein.

Julia blickt in ihre Handykamera und atmet tief durch. „Hey Leute“, sagt sie, „es ist wieder Zeit für ein Update aus meinem Leben.“ Die 17-Jährige wirkt angespannt und fährt sich mit ihrer freien Hand einmal schnell durch die langen rötlichen Haare. „Die Schule macht mir echt zu schaffen. Ich meine, ich liebe Informatik und so, aber der Rest ist nicht so toll.“ Sie atmet schwer, lässt den Arm mit dem Handy in der Hand ein wenig nach unten fallen und schüttelt leicht den Kopf, als sie sagt: „Und irgendwie wird das Stottern immer schlimmer mit dem ganzen Stress.“

Porträt von Michelle Möhring
Dr. Michélle Möhring

Was auf den ersten Blick wie eine Story auf Instagram aussieht, ist die Einstiegssequenz eines digitalen Lernmoduls aus dem Projekt „DigiFall“. Die Follower sind dabei Studierende aus pädagogischen und gesundheitsbezogenen Studiengängen, Julia selbst wird von einer Schauspielerin verkörpert. „Ziel ist es, die Kommunikations- und Beratungskompetenzen von Studierenden in multiprofessionellen Teams praxisnah zu stärken“, sagt Dr. Michélle Möhring von der Technischen Universität Dortmund, die das Projekt zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Nadine Elstrodt-Wefing leitet. „DigiFall“ steht für „Digitale Fallarbeit – Transdisziplinäres Self-Assessment in pädagogischen und gesundheitsbezogenen Kontexten“. Vor allem in Studiengängen wie Soziale Arbeit, Rehabilitationspädagogik, Heil- und Sonderpädagogik sowie Logopädie und Ergotherapie können die entstandenen Materialien eingesetzt werden, aber auch angehende Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte profitieren von ihnen. Die Idee: Durch problemorientiertes und kollaboratives Arbeiten an praxisnahen Fallbeispielen lernen Studierende, ihre in Lehrveranstaltungen erworbenen theoretischen Kenntnisse im Bereich der Kommunikation und Beratung sowie der multiprofessionellen Arbeit in die Praxis zu transferieren.

Für Nutzerinnen und Nutzer bedeutet das: aufnehmen, reflektieren, beschreiben und immer wieder selbstständig Entscheidungen treffen. Konkret schlüpfen sie zum Beispiel in die Rolle der Schulsozialarbeiterin Kerstin Sommer und werden nach dem Einstiegsvideo gefragt, welchen Eindruck sie von Julia hatten und welche Aspekte für eine erfolgreiche Zusammenarbeit besonders relevant sein könnten. Zur Bearbeitung erhalten sie zahlreiche zusätzliche Materialien wie einen Steckbrief mit persönlichen Informationen über Julia oder einen ausführlichen Anamnesebogen aus einer Logopädie-Praxis, der über die sechsjährige Julia existiert. „Im Vordergrund steht, die Teilhabe der beschriebenen Person zu sichern oder gegebenenfalls wiederherzustellen“, erklärt Möhring. Bei Julia steht die Teilhabe im Bereich Bildung und Wohnen im Fokus, im Projekt wurden aber noch zwei weitere Fallbeispiele entwickelt. Das Modul Teilhabe in Pflege und Assistenz behandelt den Fall von Jackson, der unter Muskeldystrophie leidet, im Modul Teilhabe im Wohnen geht es um Nicole, die einen Waschzwang und ein belastetes Verhältnis zu ihren Eltern hat. Eingeleitet werden die drei praxisnahen Beispiele durch zwei allgemeine Wissensmodule zu den Themen Kommunikation und Beratung sowie multiprofessionelle Zusammenarbeit. Alle fünf Bausteine sind auch einzeln durchlaufbar und als Self Assessments auf ORCA.nrw veröffentlicht.

Screenshot aus einem DigiFall-Video: POV der Sozialarbeiterin, Julia sitzt ihr gegenüber und dreht sich weg.

Im Fall von Julia geht die Geschichte mit einem nächsten Video weiter. Julia – Realschülerin in der zehnten Klasse – sitzt der Schulsozialarbeiterin gegenüber, die sagt: „Deine Lehrerin hat mich gebeten, mit dir über deine schulischen Leistungen zu sprechen.“ Die Schülerin sagt darauf nichts, schaut nur auf den Boden und zieht sich zurück. Dann ploppt eine Aufgabe auf: Man soll aus Sicht der Sozialarbeiterin zwischen drei Optionen entscheiden, wie das Gespräch weitergeht: Unterstützung anbieten, praktische Ansätze finden oder direkt die Eltern miteinbeziehen. Wählt man Letzteres, erhält man prompt Julias emotionale Reaktion im Video. „Solche Negativbeispiele will man in der Praxis vermeiden, aber sie können vorkommen“, sagt Möhring und erklärt: „Mithilfe unserer Materialien kann man sich aber gedanklich mit ihnen auseinandersetzen, reflektieren, und man erhält Unterstützung, wie die Situation gelöst werden könnte.“ Die bisherigen Rückmeldungen zeigen, dass Lernende gerade diese Konfrontation fasziniert. Zu wissen, wofür man etwas lernt, sei für Studierende enorm motivierend, bestätigt Möhring.

Die Praxisnähe haben die Projektbeteiligten mit Bravour geschaffen. Aufgabe für Aufgabe, Entscheidung für Entscheidung lernt man Julia – und in den weiteren Modulen auch Jackson und Nicole – immer besser kennen. Man begleitet Julia bei ihren familiären Problemen mit den fordernden Eltern, der Beziehung zu ihrer besten Freundin Hannah, ihren Zukunftsängsten und dem Traum, sich beruflich mit ihrer Leidenschaft Informatik zu beschäftigen. Auch die persönlichen und sozialen Herausforderungen durch ihr Stottern sind Thema. Durch die vielen Videos taucht man als Nutzerin oder Nutzer schnell in die Geschichte ein und merkt dabei, wie viel Arbeit und Liebe zum Detail in den Materialien steckt. Über 20 Personen von fünf verschiedenen NRW-Hochschulen (Technische Universität Dortmund, Hochschule Niederrhein, Universität Siegen, Hochschule Ruhr West, Fachhochschule Dortmund) haben sich in den vergangenen zwei Jahren mit der Konzeption, Erstellung und Veröffentlichung auf ORCA.nrw beschäftigt. „Wir waren in all der Zeit ein starkes Team“, erklärt Möhring und gibt zu: „Es war uns ein Herzensprojekt, entsprechend habe ich auch ein kleines weinendes Auge, dass es nun zu Ende geht. Ich kann nur allen Beteiligten – vor allem den wissenschaftlichen Mitarbeitenden und Hilfskräften – unseren großen Dank aussprechen.“

Auch für Julia schließt sich ein Kapitel. Inzwischen ist sie 19 Jahre alt und man sieht sie vor Umzugskisten und einem Transporter. „Hey Leute“, sagt sie wieder. „Ich nehme euch mal mit in mein neues Zuhause. Es ist so aufregend, endlich auszuziehen und sein eigenes Ding zu machen. Informatik, neue Freunde treffen, Abenteuer erleben – das ist jetzt mein Leben.“ Man freut sich mit ihr, denkt dabei an gelungene Teilhabe und will sich endlich entspannt zurücklehnen. Doch dann ploppt wieder ein Fenster auf: Ein paar abschließende Aufgaben warten noch, bevor das Modul erfolgreich abgeschlossen ist.

Wenn Sie mehr über das Projekt und die Arbeit hinter „DigiFall“ erfahren wollen, kommen Sie gerne zur nächsten Online-Veranstaltung von Lehre verbindet NRW. Am 23.10.2025 um 10 Uhr ist Dr. Michélle Möhring zu Gast. Anmelden können Sie sich ganz einfach hier.